erstellt am 01.07.2021
Das versunkene Schloss in der Grevenriede
Grevenriede, 29574 Ebstorf, Deutschland
Besonders geeignet für:
Die Geschichte eines Schlossherrn, einem finsteren, grämlichen Mann, der die Menschen hasste, einer unglücklichen Frau seine Hilfe versagte und dafür bestraft wurde.
Vor mehr als tausend Jahren stand in der Grevenriede ein festes Schloss. Eine aus Felsblöcken aufgeschichtete Mauer und ein breiter Wassergraben schützten den alten Bau. Äußerlich sah das aus kernigem Eichenholz erbaute Schloss nur unscheinbar aus, aber im Innern war es prächtig ausgestattet: Denn die Grafen, welche von alters her darin wohnten, waren reich begütert. Außer den Äckern, Wiesen und Wäldern, welche das Schloss umgaben, besaßen sie in den umliegenden Dörfern auch noch zahlreiche Höfe, die von unfreien Bauern bewirtschaftet wurden.
In der ersten Hälfte des neunten Jahrhunderts war der Schlossherr ein finsterer, grämlicher Mann, der Gott und Menschen hasste. Dem strengen Befehl des mächtigen Frankenkönigs Karl gehorchend, hatten die Eltern ihn zwar in seinem ersten Lebensjahre taufen lassen, aber aufgewachsen war er wie ein Heide. Niemand hatte ihm Gottesfurcht und Menschenliebe ins Herz gepflanzt, niemand hatte ihm gewehrt, wenn er im Übermut oder im Zorn unrecht handelte. So war aus dem wilden, jähzornigen Knaben ein eigenwilliger, harter Mann geworden.
Als er sich vermählte, schien es anfangs, als ob es der jungen Gräfin durch ihre Freundlichkeit und Sanftmut gelingen werde, das harte Herz ihres Gemahls zu erweichen. Aber es schien nur so. Er, der wie seine Väter den Göttern anhing und von dem Christengott nichts wissen wollte, verspottete seine Gemahlin oft um ihres Glaubens willen. Sie trug es in der Geduld und schwieg, um ihn nicht zu reizen. Da erfuhr er, dass sie in seiner Abwesenheit häufig die Gottesdienste in der Kapelle zu Ebbekestorpe [Ebstorf] besuche. Er zürnte heftig und befahl dem Torwächter, ihr fortan keinen Ausgang zu gestatten.
Eine Zeitlang gehorchte dieser; aber eines Tages konnte er den Bitten seiner jungen Herrin nicht länger widerstehen und öffnete ihr doch das Tor. Unglücklicherweise kam der Graf vor der gewöhnlichen Zeit heim und traf an der Zugbrücke mit seiner Gemahlin zusammen. Als sie freimütig bekannte, dass sie wieder in Ebbekestorpe gewesen sei, geriet er in grenzenlose Wut. Den alten Wächter ließ er, nachdem er ihn grausam misshandelt hatte, ins Schlossverlies werfen, und dann - erhob der Wüterich seine Hand sogar gegen sein eigenes Weib. Am folgenden Morgen war die Gräfin samt ihrer treuen Magd verschwunden. Vor der offenen Hinterpforte des Schlosses lagen über dem Graben zwei lange Baumstämme. Wer sie herbeigeschafft habe, wollte niemand wissen. Da tobte der Graf und schwur bei Saxnot [vermutlich der sächsische Kriegs- und Stammesgott], dass nie wieder eines Weibes Fuß das Schloss betreten solle.
Lange Jahre hauste der Graf mit seinen Knechten allein im Schloss. Jeder ging ihm gern aus dem Wege, denn er war mit der Zeit geradezu menschenfeindlich geworden. Ritt er mit seinem stolzen Rappen durch die Felder, so zitterten die Bauern, die dort hart arbeiten mussten, jagte er bei der Verfolgung des flüchtigen Hirsches oder des schwarzborstigen Ebers durch ihr Korn, dann ballten sie wohl die Fäuste, wagten aber nicht, den bösen Zwingherrn um Ersatz des Schadens zu bitten. Seine Hartherzigkeit war in der ganzen Gegend bekannt. Kein Bettler nahte dem Schlosse. Erschien einmal ein landfremder Wandersmann im Schlosshof und bat um ein Obdach oder ein Stücklein Brot, so wiesen ihn die Knechte kurz ab. Traf ihn aber der Graf selber und fragte mit polternder Stimme nach seinem Begehr, dann wagte er kaum noch, seine Bitte vorzubringen. Tat er es dennoch, so konnte er sich glücklich schätzen, wenn er das Tor erreichte, ohne von dem rohen Schlossherrn misshandelt zu werden.
An einem bitterkalten Winterabend tobte ein heftiger Schneesturm um das alte Schloss in der Riede. Der Wächter hatte die Brücke nicht aufgezogen, denn sein Herr war noch draußen. Da pochte ein ärmlich gekleidetes Weib, das ein weinendes Kind auf dem Arm trug, ans Tor und begehrte Einlass. „Erbarmt euch meiner!" rief die Frau, „ich habe mich im Walde verirrt und kann nicht mehr weiterkommen." Ihre Bitte wurde abgeschlagen, aber sie ging nicht, sondern klopfte wieder und wieder. Da plötzlich donnerten hinter ihr auf der Brücke die Hufe eines Rosses. Der Graf kehrte heim. Schon flog das Tor auf, und zwei Knechte traten mit brennenden Fackeln heraus. Nun erblickte der Graf die unglückliche Frau. „Was tut das Weib hier?" herrschte er den Wächter an. Ehe dieser antworten konnte, stand die Fremde vor dem Schlossherrn und klagte ihre Not. Doch den rührte der Jammer nicht. „Hinweg, oder ich reite dich nieder!", rief er. Aber sie wich nicht, sondern flehte weiter: „Um Heilands willen, Herr, erbarmet euch und lasst die Schlossfrau rufen! Sie wird mich nicht hinausweisen in Nacht und Tod." Das brachte des Grafen Blut zum Kochen. Er stieß eine grässliche Gotteslästerung aus und schlug der armen Frau mit der Reitgerte ins Gesicht. Laut aufschreiend taumelte die Geschlagene zurück und wankte fort; aber auf dem großen Stein, der vor der Zugbrücke lag, wandte sie sich um und rief: „Ich hörte oft vom bösen Grafen; Fürwahr, Ihr seid’s! Gott wird Euch strafen.“
„Lasst die Hunde los!“ schrie der Graf; aber das Weib war schon im Schneegestöber verschwunden. So schnell sie ihre Füße tragen wollten, floh die Unglückliche hinweg von der ungastlichen Stätte. Bald verließen sie jedoch die Kräfte; in einer hohen Schneewehe sank sie nieder und blieb liegen. Als man am anderen Tag den Schnee vom Wege räumte, wurde sie gefunden: sie war samt ihrem Kind erfroren.
Der Sturm hatte sich gelegt, aber das Schneegeriesel hörte nicht auf. Tag für Tag sanken die weißen Flocken leise hernieder und schlossen die Grevenriede ab von aller Welt. Niemand konnte das Schloss verlassen. Der Graf, der sich mit Gewalt einen Weg bahnen wollte, spornte sein Ross, dass das Blut floss, und musste umkehren. Nun wanderte er rastlos im Schloss umher. Selbst bei Nacht fand er keine Ruhe. Was mochte ihm den Schlaf rauben? Waren es die gewaltigen Schneemassen, unter deren Last seine schönen Bäume im Wald zerbrachen? Konnte er es nicht ertragen, im eigenen Schlosse gefangen zu sein, oder verfolgte ihn gar das Bild der Toten? Die Knechte wunderten sich und schüttelten die Köpfe.
Endlich hörte der Schneefall auf. Mit unsäglicher Mühe versuchten die Leute, die Wege frei zu machen. Da kam ihnen der Tauwind zu Hilfe. Die finsteren Wolken, welche er heraufjagte, brachten Regen, endlosen Regen. In Strömen rauschte er herab, und bald war die Riede ein großer See. Von allen Seiten drang das Wasser in den Schlosshof; durch die Mauerritzen, durch Tor und Pforte strömte es herein. Alles Dämmen war nutzlos. Man holte die Hunde aus dem Zwinger, und gleich darauf mussten die Pferde aus dem Stall gezogen werden. Jetzt schien das Wasser gar noch von unten zu kommen. An der Vorderwand des Schlosses kochte und brodelte es. Dann hörte man ein unheimliches Rauschen. Plötzlich schoss ein riesiger Wasserstrahl bis zum Dache empor, und langsam senkte sich eine Ecke des Gebäudes. Da stießen die Knechte das Tor auf. „Rettet Euch, Herr!" riefen sie, schwangen sich auf die Pferde und flohen.
Wohl hatte der Graf den Ruf vernommen, wohl hörte er das angstvolle Wiehern seines im Hof angebundenen Rosses; aber er wollte nicht fliehen. Die linke Hand auf den Kopf seines Lieblingshundes gelegt, mit der Rechten sich am Pfosten stützend, stand er oben an der Giebelluke des sinkenden Schlosses und schaute finsteren Blickes hinab auf die Zerstörungswerke des Wassers. Und dann kam die Nacht. Ein heftiges Frühlingsgewitter tobte sich aus über die Gegend. Der Sturm heulte, und es goss in Strömen. Als es Tag wurde, war von dem Schlosse nichts mehr zu sehen; aber an der Stelle, wo es gestanden hatte, kreisten gurgelnd die trüben Fluten.
Als die unglückliche Frau rief: „Ich hörte oft vom bösen Grafen; Fürwahr, Ihr seid‘s! Gott wird Euch strafen", stand sie auf einem großen Stein, einem Findling, der noch heute in der Grevenriede liegt. Diesen Stein kann man heute noch sehen.
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